„Fisch am Morgen, Vogel am Abend, Baum den ganzen Tag“
In memoriam Etel Adnan
Als ich die amerikanisch-libanesische Poetin und Malerin Etel Adnan im Mai 2006 zum ersten Mal in Paris traf, war sie noch weitgehend unbekannt. Ein Geheimtipp. Ihr Buch Im Herzen des Herzens eines anderen Landes mochte ich kaum aus der Hand legen. Egal, welche Seite ich aufschlug, immer bannte mich die direkte wie intime Art, einen Gedanken und eine Wahrnehmung auszudrücken. Sie schrieb von der Sonne der Kindheit, die „für immer jung bleibt“, von der Suche nach einem Klima, das das Gefühl von Erneuerung schenkt, von Dorffrauen, die Rosen sticken, um Erinnerung und Denken anzuhalten, sie erzählte von „verwirrender Wildnis“. Und trieb zugleich ein intelligentes Spiel mit William C. Gass‘ Buch Im Herzen eines anderen Landes.
Gass hatte für sein Buch eine imaginäre Stadt « B » im US-Bundesstaat Indiana erfunden. In Etel Adnans Prosa wurde « B » zu Beirut. Sie benutzte dieselben Kapitelüberschriften wie William C. Gass. Ein Auszug :
ORT
So habe ich die Meere befahren und bin …
… nach B gekommen …
Einer Stadt am Meer, im Libanon. Siebzehn Jahre sind vergangen. Meine Abwesenheit war ein Exil vom Exil. Ich gehöre zu den Menschen, die immer das machen, was schon ein anderer macht … nur ein paar Wochen früher. Ein Fisch im warmen Meer. Kein Haus als Herberge, aber ein Bett, von Haus zu Haus, und Kleidung, zerknüllt auf einem einzigen Regal. Ich suche Liebe.
LETZTE WICHTIGE FAKTEN
Was wir Gedächtnisverlust nennen, die Unmöglichkeit, sich zu erinnern, ist in Wirklichkeit eine innere Taubheit, das Denken wird dabei durch eine Art Vorhang vom inneren Ohr getrennt; es ist ein Stromausfall.
2012 konnte man bei der von Carolyn Christov-Barkagiev kuratierten documenta erleben, wie Etel Adnans malerisches Werk plötzlich international wahrgenommen wurde. Ihre farbkräftigen Bilder mit Wüsten, Sonnen und Wasserlöchern waren eine Sensation. Galeristen und Museumskuratoren aus Europa und den USA wollten Ausstellungen mit ihr planen. In Kassel erzählte sie mir, dass es Phasen in ihrem Leben gegeben habe, in denen sie jahrelang nicht schrieb. Dass sie das Malen bevorzuge, weil es direkter und primitiver sei und weil Farbe ihr keine Assoziationen aufzwingen würde. „Ich schreibe, was ich sehe und ich male, was ich bin“: So fasste Etel Adnan die beiden Grunderfahrungen ihrer künstlerischen Existenz zusammen.
Hölderlin war ihr ein Seelenverwandter. Er konnte die nie gesehenen „Städte des Euphrat“ beweinen und jeder Wolke folgen. Wetterphänomene und das Lichtspiel am Himmel faszinierten auch sie. Wolkenformationen und Temperaturschwankungen, davon war sie überzeugt, lenkten unsere Gedanken wie eine Brise unmerklich in wechselnde Richtungen. Etel Adnans Literatur kann man als einen Versuch verstehen, Leben – indem sie es poetisch überhöhte und schärfer zeichnete – nachträglich zu retten. Nüchtern, bescheiden und frei verknüpfte sie ihre Wahrnehmungen mit Reflexion in fragmentarischen Notizen. Glück suchte und fand sie in der Malerei.
Bücher von Etel Adnan (Auswahl)
Im Herzen des Herzens eines anderen Landes. Übersetzerin: Christel Dormagen, Suhrkamp, 2004
Von Frauen und Städten. übersetzt und mit einem Nachwort von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, 2006
Reise zum Mount Tamalpais. Aus dem Englisch übersetzt und mit einem Nachwort von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, 2008
Der Herr der Finsternis: Erzählungen. Aus dem Englisch von Christel Dormagen, Suhrkamp, 2009
Jahreszeiten. Herausgegeben und aus dem Englisch übersetzt von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, 2012
Arabische Apokalypse. Übersetzt von Ulrike Stoltz, Suhrkamp, Berlin 2012
Gespräche mit meiner Seele. Übersetzt von Klaudia Ruschkowski (Hrsg.), Edition Nautilus, 2015
Nacht. Edition Nautilus, 2016
Sturm ohne Wind: Gedichte | Prosa | Essays | Gespräche. Herausgegeben von Hanna Mittelstädt und Klaudia Ruschkowski. Edition Nautilus, 2019
Zeit. Übersetzt und mit einem Nachwort von Klaudia Ruschkowski, Edition Nautilus, 2021
TIPP:
Literaturgespräch PREMIERE 3/3 mit Antoine Wauters und Paul Sourzac über den Roman Denk an die Steine unter Deinen Füßen: 17. März 2022 | 19:00 – 20:30 Zoom | fr./dt.
Online-Abstimmung über die Vergabe des Prix Premiere 2022