Hab keine Angst, erzähl alles! Esther Dischereit über das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden
Esther Dischereit schreibt Lyrik und Prosa, Essays und Hörstücke. Sie arbeitete mit Tänzer*innen und Musiker*innen, hat Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien gelehrt und in den letzten zwei Jahrzehnten immer wieder Poetik-Vorlesungen und Seminare an US-amerikanischen Hochschulen gegeben. Ihre Stimme – nicht nur als Autorin der zweiten Generation nach der Shoa – ist unverzichtbar.
Esther Dischereit kultiviert, wie Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, im Nachwort zum Buch Mama, darf ich das Deutschlandlied singen festhält, ein „Langzeitgedächtnis für die Mutigen und Einsatzbereiten“. Wie entschieden die Autorin sich in politische Angelegenheiten einmischt und wie viel ihr daran liegt, demokratische und solidarische Prozesse voran zu bringen, zeigt sich auch in der Beharrlichkeit, mit der sie den 2013 begonnenen NSU-Prozess verfolgt hat. In ihrem Buch Blumen für Otello – es ist eine Sammlung von Klageliedern, die 2014 in einer deutsch-türkischen Ausgabe erschienen sind – spürt sie die Lücken auf, die im Leben von Angehörigen der Mordopfer des NSU klaffen. Esther will verstehen. Sie will wissen, warum Verbrechen begangen wurden und woran es mangelt, dass eine vollständige Aufklärung nicht gelingt.
Am 9. Oktober 2019 – an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag – scheiterte ein junger Mann daran, die Synagoge in Halle zu stürmen und alle darin im Gebet versammelten Juden und Jüdinnen zu töten. Er erschoss eine Frau auf offener Straße und einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss. Auf der Flucht verletzte er ein Paar schwer. In der Synagoge befanden sich mehrere Gläubige, deren Muttersprache Englisch ist. Weil die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Halle Deutsch und Russisch sprechen, ahnte Esther Dischereit, dass die Betroffenen Hilfe bräuchten, um eine angemessene soziale Betreuung und eine Rechtsvertretung zu finden. Sie fuhr nach Halle. Später beobachtete sie den in Magdeburg geführten Prozess, sprach mit Überlebenden, mit den Anwälten der Nebenkläger, und Einzelpersonen, die vor dem Gericht Solidarität mit den Angegriffenen demonstrierten.
So entstand das Buch Hab keine Angst, erzähl alles! Es ist ein wertvolles Dokument, in dem die Stimmen der Überlebenden der Attentate, Gerichtsprotokolle, Reden der Anwälte, Interviews und Porträts einzelner Nebenkläger abgedruckt sind. Und es legt den Finger auf wunde Punkte wie das von Zeugen beklagte fehlende polizeiliche Engagement und das Einstellen von Ermittlungen durch das BKA. In der jüdischen Tradition, sagt Esther Dischereit, müsse dokumentiert werden. Es wurden Zeugnisse in der Erde vergraben, ohne dass man gewusst habe, wer wann diese Papiere finden und lesen werde. Sie fühlt sich in dieser Tradition stehend und nimmt die „Verpflichtung“ an: „Was geschehen ist, muss beschrieben werden um seiner selbst willen. Das Dokument muss da sein, weil erinnert werden muss.“
Erzähl alles! Die in New York lebende Großmutter der Rabbinerin Rebecca Blady beauftragte die Enkelin ausdrücklich, vor Gericht ohne Angst zu sprechen. Sie hatte seinerzeit keine Möglichkeit gehabt, vor einem deutschen oder einem internationalen Gericht anzuklagen, was ihr im Konzentrationslager geschehen war. Es berührt, wie die Enkelin im Prozess an das Leid ihrer verschwiegenen Großmutter erinnert, und ihre Worte machen deutlich, wie notwendig es ist, rechtsextremistischen, reuelosen Mördern und ihren Netzen heute zu begegnen.
Esther Dischereit: Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden. Herder Verlag, Freiburg, 28.09.2021
Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. Politische Texte. Mandelbaum Verlag, Wien-Berlin, 2020
Sometimes a Single Leaf. Ausgewählte Gedichte / Selected Poems Translated & introduced by Iain Galbraith. Arc Publications, Todmorden, UK, 2020
2021/22 werden die Gedichte auch auf Spanisch erscheinen.
Eine Auswahl weiterer Publikationen (Prosa, Gedichte, Essays, Herausgaben) von Esther Dischereit:
Garz Literarische Feldforschung. Ein Dorf in Sachsen-Anhalt, Deutschland. Studierende des Instituts für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst, Wien, Mitteldeutscher Verlag, Halle, 2017
Großgesichtiges Kind / The Child With The Big Face, ins Englische übertragen von Iain Galbraith. Walter de Gruyter, Edition: ‚angewandte, Berlin/ München/ Boston 2015
„Die Mauern waren dick hier.“ Partikel vom Großgesichtigen Kind. Komposition und Gitarre: Frank Wingold, SWR Tandem Esther Dischereit und Marcus Meyer, 2. Juni 2015
Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena. Klagelieder // Otello için Çiçekler. Jena Cinayetlerine Dair. Ağitlar, in deutscher und türkischer Sprache. Aus dem Deutschen übersetzt ins Türkische von Saliha Yeniyol. s.edition im Secession Verlag für Literatur, Zürich 2014. Das Buch wird 2022 bei Seagull Books auf Englisch erscheinen.
Blumen für Otello; Regie: Guiseppe Maio, Musik: Lutz Glandien, DeutschlandRadio Kultur 2014
Vor den Hohen Feiertagen gab es ein Flüstern und Rascheln im Haus.//Before the Holy Days the House Was Full of Whisperings an Rustlings. Dülmen Eichengrünplatz. Gedichte. AvivA, Berlin, 2009
Der Morgen an dem der Zeitungsträger. Erzählungen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007,
Joëmis Tisch. Eine jüdische Geschichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988
Esther Dischereit hat für uns die Gedichte 1866 Gasthaus zum Lamm und Die Gewesenen aus dem zweisprachigen Band Sometimes a Single Leaf gelesen.