„Ich kann schreiben, was ich will“, sagt der Ich-Erzähler des Romans Lenin auf Schalke, „die im Westen lesen das immer als Osten“. Der Ich-Erzähler heißt Gregor Sander und er hat, ganz wie der echte Gregor, gute alte Freunde, die behaupten, er habe als „Ostschreiber“ doch „schön mitgesungen am untergegangen literarischen Osten“ und drücke sich schlicht davor, endlich mal „zurückzugucken“. Wie Schnitzel in der Pfanne hätten „die aus dem Westen“ den Osten seit 1989 gewendet, und damit soll Schluss sein. Freund Schlüppi definiert die Mission: „Du musst das endlich in Ordnung bringen“. Und wo? In Gelsenkirchen, der ärmsten Stadt Deutschlands, denn dort, mitten im Ruhrgebiet, wo für das Wirtschaftswunder malocht wurde, haben die Westdeutschen den Karren selber „an die Wand gefahren“.
Eine Stärke des Erzählers Gregor Sander liegt in der Beiläufigkeit, mit der er Beobachtungen notiert. Wer schreibt wie er, hat gelernt zuzuhören und hinzuschauen. Zielgenau spürt er Orte auf, an denen Geschichte sinnfällig wird. Und er ist da, wenn Zeitgenossen ideologisch auftrumpfen und eine auf dem Schrottplatz gefundene Lenin-Statue vor einer Sparkasse auf den Sockel stellen. Es ist zum Lachen. Hintersinnig spielt Gregor Sander auch mit unserem Bedürfnis, ihn und die anderen Figuren des Romans identifizieren zu wollen. Grandios ist die Idee, die Figur der „Zonen-Gaby“ zu refiktionalisieren. Im November 1989 posierte eine westdeutsche Frau auf der Titelseite des Satiremagazins Titanic mit einer geschälten Gurke in der Hand – „Meine erste Banane“ – als Zonen-Gaby. In Lenin auf Schalke ist die „Zonen-Gaby“ eine Sächsin, die sich im armen Westen eine bescheidene Existenz als ostdeutsche Historienperformerin aufgebaut hat und sich freut, wenn die FDP sie mal wieder für einen Auftritt bucht.
Gregor Sander durchstreift eine Stadtlandschaft mit Trinkhallen, Döner-Läden, geschlossenen Apotheken. Er schaut auf Fußballstadien und geschlossene Zechen, steht auf Abraumhalden, die man „für zum Runtergucken“ belassen hat. Mondlandschaft für einheimische und Touristen. Gregor Sander, das ist klar, erhebt sich nicht über die bescheidenen Lebensentwürfe der Pottler. Im Roman fragt Gregor seinen Freund Schlüppi: „Was mache ich, wenn mir die Leute leidtun“, aber der schüttelte ihn bloß: „Dann denkst du nur an die Treuhand. Wie die bei uns alles dichtgemacht haben, bis nichts mehr da war. Dann sagst du dreimal: Treuhand, Treuhand, Treuhand!“
Bücher von Gregor Sander (Auswahl)
Lenin auf Schalke. Roman. Penguin Verlag, München 2022
Alles richtig gemacht. Roman. Penguin Verlag (2019)
Tagebuch eines Jahres. Mit Audio-CD des Rundfunk-Features Während ich schrieb, Wallstein Verlag
Was gewesen wäre. Roman. Wallstein Verlag, Göttingen 2014
Im November 2019 startete die Verfilmung des Romans ins Kino. Gregor Sander hat das Drehbuch geschrieben, Florian Koerner von Gustorf führte Regie. Die Hauptrollen spielten Christiane Paul und Ronald Zehrfeld
Winterfisch. Erzählungen, Wallstein Verlag, Göttingen 2011