2012 überquerte die Theaterautorin und Lyrikerin Mariette Navarro gemeinsam mit anderen Autoren und Autorinnen auf einem Containerschiff den Atlantik. Plötzlich keinen Vogelschrei mehr zu hören, das Zeitgefühl zu verlieren und sich nurmehr am Licht, an Helligkeit und Dunkel zu orientieren, beschreibt sie als eine tiefe Erfahrung. Mariette Navarro kam mit Notizen zurück, aber erst als die Figur einer Kapitänin Gestalt in ihrem Kopf annahm, bekam sie Lust, eine Geschichte zu erfinden.
Eine 20-köpfige männliche Crew bittet die Kapitänin, auf hoher See baden zu dürfen. Zu ihrer eigenen Überraschung willigt sie ein und von dem Augenblick an, verändert sich das Leben aller. Fraglich ist, ob die Schwimmenden sich jemals von dem existenziellen Taumel, der sie in tiefem Wasser ergriff, erholen werden? „Selbst wenn man das Meer seit Jahrhunderten besegelt“, so Mariette Navarro, „bleibt es etwas Unbekanntes. Es löst Träume aus, Fantasien und Ängste.“ Und Wünsche. Glaubwürdigkeit ist kein erzählerisches Gebot in diesem wunderbaren, poetisch hochverdichteten Roman.
Jean-Paul Dumas-Grillet ist Fotograf. Galerien und Museen stellen seine Bilder aus, die französische Nationalbibliothek hat Werke für ihre Sammlung angekauft. Immer wieder war er auch bei Filmdreharbeiten beschäftigt. In seinem Debütroman Dieux les Pères erinnert Dumas-Grillet auf spielerische Weise an Kinoszenen, an reale Schauspieler und Regisseure. Die Hauptfigur ist auf der Theaterbühne und am Filmset gescheitert. Übermäßiges Lampenfieber zerstört seine vielversprechende Schauspielerkarriere und die Ehe. Bob Declerq lebt mit seiner kleinen Tochter in einem Pariser Vorort. Der Vollzeitvater hat kaum Geld, der Alltag ist schwierig, bis beide bei einem guten Freund, der ebenfalls mit seiner Tochter lebt, einziehen. Die Rollen sind klar verteilt: Einer schafft das Geld heran, der andere kümmert sich um den Haushalt. Sie gründen „eine Familie der neuen Art, ohne besondere Erwartungen, ohne Eifersucht, ohne sexuelle Ansprüche“. Könnte das Modell scheitern, wenn sich die Und Väter eines Tages wieder in Frauen verlieben? Jean-Paul Dumas-Grillet ist auf der Seite der pragmatischen und lebensklugen Jugend: Die Mädchen sind bereit, mit zwei Vätern, zwei Müttern und zwei biologischen Mütter zusammen zu leben. Dieux les Pères : ein optimistisches, bildstarkes, sehr zeitgemäßes Romandebüt.
Mariette Navarro: Über die See. Aus dem Französischen von Sophie Beese. Antje Kunstmann Verlag, München 2022
Jean-Paul Dumas-Grillet: Dieux les Pères, librinova, 2022
Coup de cœur:
Christophe Boltanski : Die Leben des Jacob, Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, 208 Seiten, Carl Hanser Verlag, München (20.03.2023)
Von einem Flohmarktgänger erwirbt eine Pariser Filmproduzentin ein schweres kunstledernes Album. Hineingeklebt sind 369 Passbilder, die ein junger Mann zwischen 1970 und 1974 in einer Fotokabine von sich aufgenommen hatte. Glattes Gesicht, perfekte Zahnreihen, das breite Lächeln wirkt ein bißchen zu gewollt. Schnell wird die Lust des Unbekannten am Rollenspiel augenfällig. Mal mimt er einen Ganoven, mal einen Liebhaber, Elvis mit Tolle so gut wie den melancholischen Buster Keaton oder einen Agenten mit dunkler Brille und Anzug. Eine spannende Geschichte witternd, vertraut die Produzentin dem Journalisten und Schriftsteller Christophe Boltanski das Album an und beauftragt ihn, etwas über den Fremden herauszufinden und ein Filmexposé zu schreiben. Ungeduldig entzieht sie ihm nach einem Jahr den Auftrag. Der Weg zum Buch ist frei.
Die autobiographischen Romane „Das Versteck“ und „Le guetteur“ bezeugen, wie findig, beharrlich und einfühlsam Christophe Boltanski Spurensuche betreibt. Sein Versuch, „von einem Oberkörper ausgehend, ein ganzes Leben rekonstruieren“, beginnt in einem „zwischen Fahrkartenschalter und Rolltreppen“ platzierten Fotoautomaten. Er inspiziert ihn und tritt in einen inneren Dialog mit dem Unbekannten, der seinen Namen, Jacob B’chiri, auf der Rückseite der Fotos hinterlassen hatte und im Falle seines Todes darum bat, die israelische Botschaft in Paris zu kontaktieren. Was nur will der Fremde durch die methodische, zwanghaft wirkende Anhäufung seiner Abbilder ausdrücken – oder verbergen?
Boltanski notiert: „Seine Manie, seinen Namen und sein Gesicht zu sammeln, erzeugte ein merkwürdiges Gefühl von Abwesenheit“. Und die Adressangaben unter den Passfotos, mit Etiketten der israelischen Fluggesellschaft El Al versehen, erwecken den Eindruck eines wirren Durcheinanders. Der Autor rekonstruiert eine komplizierte Route, die in 24 Etappen von Rom nach Paris, Marseille, Lyon, in die Schweiz und nach Israel führt. Zeitweilig hält er es für möglich, dass B’chiri für den israelischer Geheimdienst arbeitete. Boltanski macht Menschen ausfindig, bei denen Jacob B’chiri kurzzeitig wohnte und will verstehen, warum B’chiri, der 1948 auf der tunesischen Insel Djerba geboren wurde, nach dem plötzlichen Tod des Vaters seine Heimat nie wieder aufsuchen wollte.
Christophe Boltanski hat jahrzehntelang als Reporter im Nahen und Korrespondent in London gearbeitet. Er weiß, dass Leser nicht mit Vermutungen abgespeist werden wollen, sondern Fakten verlangen. Gut dosiert unterfüttert er die Schilderung seiner „Schnitzeljagd“ mit Zeitgeschichte. Er findet Jacobs Kinder in Paris und trifft Mitglieder der Familie B’chiri in Israel. Er entdeckt, dass Jacob als Soldat der Golani-Brigade den Sechs-Tage-Krieg 1967 nur knapp überlebt hatte, dass er danach Kunst in Marseille und Architektur in Paris studierte, aber nie etwas baute, sondern Erfüllung fand im schweren Amt der chevra kadisha, der jüdischen Beerdigungsbruderschaft – bis diese ihn entließ und er sich von allen und allem zurückzuziehen begann.
„Das herrenlose Album“, das Christoph Boltanski vor Jahren in die Hände bekam, war für ihn zunächst nichts anderes als eine Todesanzeige. Mit großer Einfühlsamkeit ist es ihm gelungen, ein ganzes, 66 Jahre währendes Leben mit seinen Abgründen und Leerstellen, Verrücktheiten und Glücksmomenten wiedererstehen zu lassen. An uns ist es, sich vorzustellen, was diese Rekonstruktionsleistung dem Autor bedeutet. Kommt er doch aus einer Familie, die dem Tod, wie er sagt, alles verweigerte. Für seine Angehörigen gab es weder einen Trauerzug noch irgendeine Form von Gedenken. Er, der bei den Großeltern aufwuchs, kennt deren Grabstätte nicht. Auf Jacob B’chiris Grabstein in Be’er Sheva hat er Steine legen können.