
2012 habe ich den Schriftsteller Jérôme Ferrari zum ersten Mal getroffen, zu Aufnahmen für eine Radiosendung. Sein Roman „Und meine Seele ließ ich zurück“, Laurent Mauvigniers „Die Wunde“ und Alice Ferneys Buch „Passé sous silence“ über einen geschichtlich bezeugten Attentatsversuch auf den französischen Staatspräsidenten de Gaulle standen im Zentrum einer Sendung über den Algerienkrieg und wie junge Autor*innen 50 Jahre nach der Unabhängigkeit darauf schauen.
Jérôme Ferrari ist in Paris aufgewachsen. Er hat Philosophie studiert und dieses Fach auch mehrere Jahre in Algier unterrichtet. Obwohl der Prix Goncourt, den Ferrari 2012 für seinen Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ erhielt, es ihm erlaubt hätte, nur noch literarisch zu schreiben, unterrichtet er weiter.
Weil er sich für die poetischen Facetten der Quantentheorie interessierte, entstand ein Roman, in dem er die politische Naivität des von der Schönheit der Formeln wie der Natur beseelten Physik-Nobelpreisträgers Werner Heisenberg enthüllt. Der Buchtitel „Das Prinzip“ steht für die Entdeckung, dass es keine Permanenz und keine Kontinuität gibt – nur flüchtige Existenzen und unverbundene Ereignisse. Wahrheit lässt sich nur unscharf fassen.
Seit 2017 lebt Jérôme Ferrari wieder fest auf Korsika. Dort entstand der mehrfach preisgekrönte, inzwischen auch verfilmte Roman „Nach seinem Bilde“, in dem Ferrari mit dem blutigen Nationalismus der korsischen Befreiungsbewegung abrechnet. Auch sein jüngstes Werk spielt auf Korsika, selbst wenn der Buchtitel „Nord Sentinelle“ auf eine kleine Insel im Indischen Ozean verweist. Die Bewohner von North Sentinel Island töten jeden, der die Insel zu betreten versucht. Anders als die Sentilenesen sahen alteingesessene korsische Familien in der Beherbergung von Reisenden eher Vorteile. Seit den 1980er Jahren verkauften sie Land, investierten in Ferienwohnungen, eröffneten Restaurants und Läden – und verdienten ein Vermögen. Ferraris neuer Roman spielt in unserer Gegenwart. Er wirft die grundlegende Frage auf, ob es überhaupt eine ehrliche Beziehung zwischen Einheimischen und Reisenden geben kann.
Copyright Fotografie: Mathias Bothor
Bücher von Jérôme Ferrari (eine Auswahl):
- Nord Sentinelle. Märchen vom Einheimischen und vom Reisenden. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Zürich 2025
- Nach seinem Bilde. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession, Zürich 2019
- Ein Gott, ein Tier. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Seccession, Zürich 2017
- Das Prinzip, Roman. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession, Zürich 2015
- Predigt auf den Untergang Roms. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession, Zürich 2013
- Balco Atlantico. Übers. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac. Secession, Zürich 2013
- Und meine Seele ließ ich zurück. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska, Zürich 2011