Stern 111 – Im Kieferngewölbe – Zu Besuch bei Lutz Seiler
Der Lyriker und Romancier Lutz Seiler pendelt zwischen Stockholm und Wilhelmshorst bei Potsdam. Wir haben ihn in der Mittelmark besucht, im Haus des Dichters Peter Huchel. Huchels Witwe hat das kiefernumstandene Landhaus einem Verein vererbt, der mit Ausstellungen an das Schaffen und Leben ihres jahrzehntelang von der Stasi beobachteten Mannes erinnert und Autor*innen zu Lesungen einlädt.
Im Zentrum unseres Gesprächs mit Lutz Seiler steht sein Roman Stern 111, aus dem er zwei Passagen liest. Das Buch wurde 2020 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Im Januar 2022 erscheint die französische Übersetzung im Verlag Verdier.
Bald 30 Jahre, so Lutz Seiler, mussten vergehen, um sich mit frischem Blick an die Zeit des Umbruchs von 1989 zu erinnern. Wie viele andere auch war er müde von den Beschreibungen der „Wende“-Geschichte und dem indirekten „Euphorie-Befehl“. Lutz Seiler ist in das Zimmer zurückgekehrt, das er im Spätherbst ‚89 in einem besetzten Haus im Prenzlauer Berg bewohnte; er hat die spielerische Energie wachgerufen, die junge Menschen damals in Ost-Berlin befeuertek, ihr Ding zu machen – z.B. ein Arbeiter-Kellercafé zu eröffnen. Zur Stammkundschaft der „Assel“ zählten auch die plötzlich in der Oranienburger Straße anschaffenden Prostituierten.
Seilers Romanheld Carl Bischof, Mitte 20, gelernter Maurer, hat ein Studium abgebrochen und träumt von einer poetischen Existenz. Seine Eltern sind kurz nach dem Fall der Mauer, ausgerüstet mit Wanderrucksäcken und einem Akkordeon, aus Thüringen nach Westdeutschland migriert. Und von dort setzten sie zu einem noch viel größeren Sprung an. Als Carl seine Eltern in Kalifornien besucht, begreift er, dass sie „andere Menschen jenseits von Elternschaft sind“ und dass er lernen muss, „ein eigener Mensch in dieser Welt zu sein“.
Und Stern 111 – was ist das? Ein Kofferradio aus dem Stern-Werk Berlin. Die erste große Anschaffung der Familie Seiler. Das Radio ist das „synthetisierende Motiv“, unter dem die kleine, auseinanderstrebende Familie wieder zusammenfindet.
Nach dem Roman Stern 111 hat Lutz Seiler Gedichte geschrieben, die im August bei Suhrkamp als Buch erscheinen werden. Für uns hat er aus dem noch unveröffentlichten Band schrift für blinde riesen das Gedicht Hubertusweg gelesen und über die „konzentrierte Abwesenheit“ gesprochen, die es braucht, um „an der Realität vorbei auf ein starkes Bild zuzugreifen“.
Lutz Seiler: Stern 111. Roman. 528 S., Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
Lutz Seiler: Kruso. Roman. 480 S., Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
Lutz Seiler: schrift für blinde riesen. Gedichte. 120 S., Suhrkamp Verlag, Berlin (EÖ: 16.08.2021)
Coup de cœur:
Violette Leduc: Thérèse und Isabelle. Übersetzt von Sina de Malafosse. Roman. 169 S., Aufbau Verlag, Berlin, Mai 2021